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http://blog.prinz.de/gran(...)er-durst/#more-90033Malmö from outer space: ESC-Sieg 2013 – Eine Frage von Hunger oder Durst?
Noch keine 24 Stunden ist es her, das erste ESC-Semifinale 2013. Und nicht nur in der Malmö-Blase, nein überall, europaweit, sucht der findige Fan nach Hinweisen, Andeutungen, Erklärungen, nach Anzeichen, Meinungen und Fakten. Wer gewinnt denn nun am Samstag? Hat das Semifinale neue Erkenntnisse geliefert?
Das ESC-Urgestein der schreibenden Zunft, Jan Feddersen, hat vor Jahren einen Begriff geprägt, der seiner Meinung nach das beschreibt, was ein ESC-Auftritt mitbringen muss, um ganz vorne mitzuspielen, nein, um zu siegen. Der unbedingte Siegeswille sei es, der Hunger des Interpreten, der den Gewinn der Schüssel letztendlich zwingend mit sich bringt. Es schadet nicht, wenn der Song gut und eingängig ist, noch wichtiger ist es aber, dass sich der Interpret mit allem was er hat, in diese drei Minuten wirft und einen Once-in-a-lifetime-Auftritt hinlegt.
Bezog sich Jan F. lange Zeit auf die großen ESC-Diven der frühen 70er, etwa Severine oder Vicky Leandros, so lassen sich auch in jüngerer Zeit Beispiele für den ESC-Hunger finden: Marija aus Belgrad gehört ebenso dazu wie der Russe Dima Bilan oder der Norweger Alexander Rybak. Lena auch und für uns (aber nicht für Jan F.) auch Loreen. Die “neuen Hungrigen” verlassen sich aber nicht nur auf sich selbst und ihren Song, sondern fügen ein Drumherum hinzu, eine Show, ein Outfit, eine Choregraphie, eine Idee. Das kann ganz viel sein, wie bei Dima oder ganz wenig wie bei Lena, aber irgendwas ist es, ein Vehikel, das dem Song dazu verhilft, ganz besonders beim Publikum und den Juroren hängen zu bleiben.
Nun stellt sich die Frage: gab es am Dienstag auch bereits jemanden, der Europa bereits überzeugt hat und – noch wichtiger – am Samstag vielleicht noch eine Kelle draufzulegen in der Lage ist, um europaweit zu überzeugen.
Wie ist es mit der hochgehandelten Dänin? Hmm, Jan F. und auch der Autor dieser Zeilen sind sich da nicht so sicher. Sie ist und bleibt eine Elfe, scheu und auch ein wenig konventionell, da mögen die Haare noch so schön gefönt sein, die Windmaschine noch so turbomäßig angeschmissen – zumindest gestern fehlte noch der letzte Kick, der magisch zum Telefonhörer greifen lässt.
Oder die Ukrainerin? So richtig hungrig wirkte auch sie nicht, Gesang und Gestaltung des Beitrages hatten doch etwas arg Konstruiertes, Kontrolliertes und Kalkuliertes, aber irgendwie war das alles nicht echt.
Die Russin? Ja, überraschenderweise die schon eher, schaffte sie es doch als Erste des gestrigen Abends den ein oder anderenin der überschaubaren TV-Runde einen “Wow”-ähnlichen Ausdruck hervorzulocken. Gnadenlos gut sang sie ein gnadenlos altmodisches Lied und lieferte damit ihre “Hunger-Idee”. Blick zurück in die goldenen Jahre der Vicky-/Severine-Ära etc. Kann das heute noch reichen? Vielleicht. Auf jeden Fall war die Interpretin für die Zeit ihres Auftrittes wichtiger als das Lied.
Oder müssen wir umdenken? Was ist mit Anouk, mit der wir lange bibbern mussten und die dann unter großen Jubel noch ins Finale rutschte? War die Niederländerin hungrig?
Wenn ein Begriff und eine Beschreibung für den ganz speziellen Auftritt mit dem Lied “Birds” nicht geeignet ist, dann ist es dieser. Anouk “ging nicht nach vorn”, präsentierte keine Idee, geschweige denn irgendwelche Props oder Gimmicks, zwang uns zu nichts. Stattdessen hielt sie über weite Strecken ihres Liedes ihre Augen geschlossen, hatte eine etwas iritierende Körpersprache und sang nach innen. Sie lieferte einen der unspektakulärsten Auftritte, den der ESC seit langer Zeit gesehen hat. Hohe Musikalität, aber vollkommen bühnenfern präsentiert. Dennoch, man war berührt, denn das, was sie da so unoptisch und dürr präsentierte, fesselte. Aber es machte gleichzeitig auch ratlos. Schöne Musik – für’s Radio oder das Abspielgerät, aber für’s Fernsehen? Dafür soll Europa sich entscheiden, wenn gleichzeitig Kurbelkleider oder Barfusselfen locken?
Anouk zeigte keinerlei eurovisionäre Hungergefühle gestern (aber auch wohl schon vorher in der Blase), bestenfalls… Durst. Ihr Auftritt, in gewisser Weise staubtrocken und ausgedörrt, kein reichhaltiger Präsentkorb, sondern eher ein Glas Wasser. Es scheint, dass sie tatsächlich nicht gewinnen, sondern einfach ihr Lied präsentieren möchte.
Es hat in den letzten Jahren immer mal wieder tendenziell durstige Auftritte beim ESC gegeben, Max aus Deutschland im Jahre 2004 mit nur einer Augenbraue oder Paradise Oscar im Jahre 2011 in der Ökobluse sind hier zu nennen, aber noch nie hat jemand dieses Konzept so konsequent und gleichzeitig so erfolgsversprechend verkörpert wie Anouk.
Denn: aller visuellen Redundanz zum Trotz taucht das Lied bereits am Tag nach dem Semi in den Toplisten verschiedener Länder des großen Download-Ladens auf. In ihrem Heimatland ganz oben, klar, aber auch in Schweden schon in den Top-10 und in einigen Ländern auch zunehmend besser platziert. Auch in den Wetten geht es wieder bergauf – Anouk hat Cascada mal wieder überholt und liegt aktuell auf der 5. Sicher, beim Herunterladen kriegt man nur die Audiospur, aber irgendwie muss die Sängerin die Menschen am gestrigen Abend doch erreicht haben…
Das alles muss nichts heißen, die dänische Elfe liegt chartmäßig zurzeit deutlich besser, in Schweden ist sie soagr schon auf der 1, aber wenn Emmelie de Forest nicht einen deutlich hungrigeren Auftritt hinlegt, kann es sein, dass Anouks durstige Präsentation sie am Samstag zur Nacht überrundet.
Aber es kommt ja noch mehr, zunächst die Sieger des zweiten Semis und dann noch die dirketen Finalisten: auf der Hungerseite ist vermutlich mit Cascada zu rechnen, auch mit Farid aus Baku oder dem Liebesduo aus Georgien. Und auch ein weiterer durstiger Kandidat steht bereit: Marco Mengoni aus Italien fährt einen ähnlichen Stiefel wie die Niederländerin: ungekämmt und nachlässig gekleidet wartet er auf das, was da so kommen mag. Und das tun wir auch. Denn, wie schon gesagt – all das hier ist wieder weitreichende Spekulation auf der Basis zusammengekramter Fakten.
Und somit unterscheidet sich der Blick von außen nach Malmö eigentlich kaum vom Blick aus der Blase: Die Kristallkugel bleibt getrübt, keiner weiß irgendwas – erst Samstag Nacht.
P.S.: Möglicherweise zur Feier des Finaleinzugs hat Anouk heute das offizielle Video zu “Birds” veröffentlicht – eine Ballettgeschichte, visuell ansprechend mit vielen Zeitlupen, aber (fast?) ohne Anouk – oder ist sie die strenge Ballettlehrerin? Hier ist das Video.