KOMMENTAR
Der Schneefall wird zur Katastrophe hochgeschrieben
Es kann durchaus vorkommen, dass es im Winter schneit – manchmal auch viel wie derzeit im Wallis. Aber woher kommt die mediale Sehnsucht nach der Katastrophe, die gar nicht stattfindet?
Die Schneefälle im Wallis haben Lawinen von Schlagzeilen ausgelöst, die mit ebensolcher Wucht durchs Land brausen wie die echten Lawinen nach den kontrollierten Sprengungen der letzten Tage. Im Live-Stream prasseln die Schlagzeilen, Bilder und Videos hernieder: «Alpensüdseite versinkt im Schnee» – «Schnee macht das Wallis dicht» – «Zermatt und Saas-Fee von der Aussenwelt abgeschnitten» – «So kämpfen sich die Zermatter durchs Schnee-Chaos», «Elektromobile am Anschlag». Sogar das Wort «Luftbrücke» erlebt eine Wiedergeburt, als ginge es um die Notversorgung von hungernden Eingeschlossenen wie anno 1948/49 während der Berlin-Blockade. Und wenn Menschen auf dem Zermatter Heliport in der Kälte darauf warten, per Helikopter «ausgeflogen» zu werden, so sind es auch nicht verzweifelte Flüchtlinge im Katastrophengebiet, sondern bloss Feriengäste, die für 70 Franken einen Service in Anspruch nehmen, um pünktlich zurück zu sein.
Schnee und Regen im Wallis
Etliche Medien haben mit den bewährten Mitteln der Dramatisierung, Übertreibung und Selektion eine sekundäre Wirklichkeit der Ereignisse konstruiert, die nicht sehr viel mit der Wirklichkeit zu tun hat, aber viel aussagt über die Wunschvorstellungen in den Redaktionen. Es ist, als gäbe es eine heimliche Sehnsucht nach der Katastrophe – oder mindestens nach dem Kataströphchen, das halt spannender ist als die Realität. Dass eigentlich alles halb so wild ist, verriet ein Fernsehbeitrag, in dem die Reporter von SRF die Lage der Eingeschlossenen sondierten: Statt des erhofften Notstands herrscht ausgelassene Stimmung bei den Gästen, die sich mit Raclette und Schnaps die Zeit vertreiben, kein Zwang zur Rationierung in den Küchen der Luxushotels, nichts zu sehen von Knappheit, ausser dass dem lokalen Lebensmittelhändler in ein paar Tagen die Tomaten ausgehen und dass im Hotel die Wäsche für den Spa langsam knapp wird und eingeflogen werden muss.
Intensive Schneefälle haben in der Nacht auf Dienstag in den Schweizer Alpen zu massiver Lawinengefahr geführt. Zermatt war mehrere Tage nur per Luft erreichbar.
Die Realität will sich einfach nicht der gewünschten Medienwirklichkeit fügen. Schneefall im Winter ist nun einmal der Normalfall in den Bergen, auch viel Schnee kann es durchaus geben. Und dass dann Lawinen abgehen und zeitweise Strassen und Bahnlinien unpassierbar machen, ist auch nichts Ungewöhnliches. Routiniert machen die Krisenstäbe ihre Arbeit, abgeklärt sprengen die Experten den Schnee aus den Hängen, und geübt machen die Räumungsdienste die Gleise und Strassen frei. Die Ansässigen wissen ohnehin, dass hier oben die Natur regiert, und nehmen solche Unbilden mit der Gelassenheit der Bergler. Und wohl auch für die meisten Gäste sind zwei Tage Einschluss kein Grund zur Panik, solange die Sicherheit gewährleistet und die Dusche warm ist.
Nur zivilisationsverwöhnte Flachländer und Städter, für die es normal ist, dass immer alles reibungslos funktioniert, muss man manchmal daran erinnern, dass da noch eine ungezähmte Natur existiert und es keine Katastrophe ist, wenn eine Strasse zwei, drei Tage gesperrt ist.
Bron
https://www.nzz.ch/meinun(...)schrieben-ld.1346337